Erik Satie - "vexations" am Reichstag
Tagesspiegel Berlin, 18.09.1990
Klaviermarathon - 25 Stunden Erik Satie am Spreebogen
von Sybill Mahlke
Mehr Ritual als Scherz, in jedem Fall aber beides, sind die "Vexations" (Quälereien) von Erik Satie mit der Aufführungsanweisung versehen: Pour se jouer 840 fois de suite", Obwohl das kleine Klavierstück. Thema, Kontrapunkt, Thema, zweiter Kontrapunkt, Ende des vorigen Jahrhunderts entstanden ist, fand seine Uraufführung in der intendierten Form erst 1963 in New York unter der Leitung von John Cage statt, gespielt von zehn sich abwechselnden Pianisten in 18 Stunden und 40 Minuten. Cage, dessen avantgardistisches Feeling in Satie einen Meister gefunden hatte, weist in einem Brief über die Realisation darauf hin, daß das Stück schwer zu lesen und zu spielen sei.
Seinem mystischen Rang entsprach ein einmaliges Konzert", zu dem sich 16 Pianisten und Pianistinnen aus Ost- und West-Berlin, Brasilien, Kanada und den USA zusammengefunden hatten, denn als Spielort diente das Brachland am Spreebogen zwischen Reichstag und Charith, das bis zum 9. November vorigen Jahres mehrfach gesicherter Grenzstreifen gewesen war.
Der Meditation mit Klaviermarathon tun Geräusche zu Wasser, Erde und Luft keinen Abbruch, Saties "grand silence" kann es hier nicht geben. Aber ein "Konzert in der Übergangszeit zweier Staaten', zu dessen nachmittäglichem Beginn der Ausflugsdampfer Wilhelm Pieck" auf der Spree als ein Zeichen realexistierender DDR vorbeifährt.
Über das „Très lent", Saties Spielanweisung, werden verschiedene Musiker unterschiedlicher Meinung sein. Während Cage das Tempo offenbar einheitlich koordiniert hat, waren die Berliner Pianisten, deren elektrisch verstärkter Konzertflügel auf einem ehemaligen Brückenfundament nachts unter einer Plane, am sonnigen Tag im Freien stand, dem eigenen Gefühl überlassen. Das Erstaunliche ist, dass zum Beispiel Alan Marks und seine OstBerliner Kollegin Eva-Maria Freyer sich für die einzelnen Durchgänge des Stücks Zeiten von einer halben Minute Differenz nahmen, Marks gut eineinhalb, Freyer gut zwei Minuten, und ihre Zeit jeweils musikalisch dennoch erfüllten. Erlaubte es sich Harald-Alexander Korp, der Initiator der Steinway-Performance, das Stückchen auch einmal con espressione zu spielen, so trans-ponierte der Komponist Chico Mello es an den Rand der Unhörbarkeit, betonte der Schauspieler Christian Steyer kräftig die Baßnoten. Hans Michael Klein, einer der langsamen Interpreten, machte mit gleichmäßig meißelndem Anschlag die Akkordik besonders, plastisch.
840mal, Glaskugeln dienten der Zählung, und das naturgegebene Ambiente zwischen Vergangen-heit und Zukunft, von Klaus Rudolf durch ein Mini-Stonehenge aus malerischem Zivi-lisationströdel um den optischen Blickfang ergänzt, fügte sich der Inszenierung: Fahrradklingeln, Schiffssirenen, S- und Eisenbahnzüge, Flugzeuge und ein Werbezeppelin nahmen ihre Einsätze wahr, wie es eine übergeordnete Regie wollte, welcher zudem vom Himmel die erlesensten Beleuchtungseffekte beschieden waren. An der Spree dauerten die „Vexations" 25 Stunden - vielseitige Stunden.
Der Tagesspiegel, 18.9.1990